Vibroakustisches KI-System zur Erkennung von Pedikelperforationen

Die sichere Platzierung von Pedikelschrauben ist ein Grundpfeiler der modernen Wirbelsäulenchirurgie. Trotz Fortschritten in der optischen Navigation, Augmented Reality und Robotik liegt die Fehlplatzierungsrate weiterhin bei 5–15 %, und die Abhängigkeit von ionisierender Bildgebung setzt Patienten und OP-Team erheblichen kumulativen Strahlendosen aus. Ein neuer Forschungsansatz zielt darauf ab, intraoperative Strahlung durch den Einsatz von vibroakustischen Sensoren in Kombination mit Deep-Learning-Modellen zu eliminieren, die in Echtzeit die Kortikalisnähe erkennen und bevorstehende Fehlbohrungen antizipieren. Dieser Artikel erläutert das physikalische Prinzip der Vibroakustik, beschreibt die neuesten Prototypen, fasst die präklinischen Evidenzen zusammen und beleuchtet die Herausforderungen bei der Implementierung im Operationssaal.

1. Einleitung: Die Herausforderung der Pedikelschrauben-Fehlplatzierung

Pedikelschrauben bieten Stabilität bei Arthrodesen und Deformitätskorrekturen. Eine falsche Platzierung kann jedoch zu schweren neurologischen und vaskulären Verletzungen führen. Obwohl die biplanare Fluoroskopie die Sicht verbessert, hängt die Genauigkeit von der Erfahrung des Chirurgen ab und erfordert 2 bis 8 mSv Strahlung pro Eingriff¹. 3D-Navigations- und Augmented-Reality-Technologien verringern die Fehlerquote, benötigen jedoch weiterhin eine intraoperative CT- oder Cone-Beam-Aufnahme.

 

2. Vibroakustisches Prinzip

Das Verfahren beruht darauf, dass Knochendichte und Mikroarchitektur die Schwingungsübertragung beeinflussen. Während des Pedikellochbohrens erfasst ein Transducersystem (Kontaktmikrofone, dreiachsige Beschleunigungssensoren und Freifeldmikrofone) in Echtzeit das vibroakustische Signal des Bohrers. Beim Eindringen der Spitze durch die mediale oder laterale Kortikalis ändert sich das Frequenzspektrum charakteristisch. Ein mit tausenden kadaverischen Proben trainierter Deep-Learning-Algorithmus klassifiziert jedes Millisekunde lange Signal als „sicher“ oder „Perforation“ mit einer Latenz von unter 50 ms².

 

3. Aktuelle Systemdesigns

KomponenteFunktionEntwicklungsstand
Piezoelektrische KontaktmikrofoneErfassen Vibrationen durch den KnochenTRL 5 (Kadaver-Validierung)
MEMS-BeschleunigungssensorenErfassen Beschleunigungen entlang der SchraubenachseTRL 4
KI-Einheit im sterilen BereichEchtzeit-Inferenz (<50 ms)TRL 5
Haptische und visuelle SchnittstelleWarnt den Chirurgen ohne AblenkungTRL 4

Die meisten Plattformen verwenden einen CNN-Algorithmus, der auf Mel-Spektrogrammen trainiert ist und in Ex-vivo-Studien eine Breach-Recall-Rate von 92 %–98 % erreicht³˒⁴.

 

4. Präklinische Evidenz und erste Ergebnisse

  • Massalimova et al., 2023: 98 % Sensitivität und 97 % Spezifität in 64 Pedikeln eines Vier-Säulen-Kadavermodells².
  • Europäisches FAROS (H2020)-Projekt: Integration der Vibroakustik in eine Robotikplattform, 1,1 mm Platzierungsgenauigkeit und nur drei C-Arm-Aufnahmen pro Schraube⁴.
  • Cavalcanti et al., 2024: Erweiterung der Methode zur Erkennung von Schraubenlockerungen mittels Vibrationssignaturen, mit 91 % Sensitivität³.

 

5. Vergleich mit bestehenden Technologien

KriteriumFluoroskopie3D-Optische NavigationAugmented RealityVibroakustik + KI
StrahlungHochMittelMittelKeine
AnschaffungskostenNiedrigHochHochMittel
LernkurveKurzMittelLangKurz
Außerhalb hybriden OPs anwendbarJaNeinNeinJa
Echtzeit-FeedbackBegrenztJaJaJa (50 ms)

 

6. Potenzielle Vorteile

  1. Sicherheit: objektive Warnung vor Kortikalisdurchbruch.
  2. Effizienz: verkürzt die OP-Zeit durch Wegfall wiederholter Bildgebung.
  3. Strahlenschutz: eliminiert die Exposition bei mehrstufigen Deformitäten-Operationen.
  4. Zugänglichkeit: kostengünstige Sensoren, adaptierbar an Standardbohrer.
  5. Kompatibilität: Ergänzung zur optischen oder robotischen Navigation als zweite Sicherheitsebene.

 

7. Herausforderungen und regulatorische Hürden

  • Anatomische Variabilität: Modelle müssen auf osteoporotische und pädiatrische Pedikel übertragbar sein.
  • Sterile Integration: Mikrofone müssen autoclavierbar sein oder Einweghüllen nutzen.
  • Klinische Validierung: es fehlen multizentrische randomisierte Studien zur Überlegenheit.
  • Regulierung: als Medizinprodukt Klasse IIb/III in der EU eingestuft, CE-Kennzeichnung und mögliche Leistungsprüfungen erforderlich.

 

8. Unmittelbare Zukunft (2025–2030)

  • Modalitätenfusion: Kombination von Vibrationen, Ultraschall und Drehmoment für ein multimodales Bohrprofil.
  • Erklärbare KI: Anzeige der Bruchwahrscheinlichkeit zur geteilten Entscheidungsfindung.
  • Mixed-Reality-Integration: Überlagerung vibroakustischer Warnungen im Sichtfeld des Chirurgen.
  • Telemetrie und IoT: Cloud-Speicherung für Audit-Trails und föderiertes maschinelles Lernen.
  • Demokratisierung: Plug-and-Play-Kits, die Standardbohrer in intelligente Systeme verwandeln.

 

9. Schlussfolgerungen

Die KI-gestützte vibroakustische Detektion zeichnet sich als die vierte Welle der Innovation in der Wirbelsäulenchirurgie ab und zielt auf Null-Strahlungs-OPs ab. Die präklinischen Daten sind vielversprechend und deuten auf reduzierte Komplikationen ohne zusätzliche Kosten oder Komplexität hin. Das nächste Jahrzehnt wird entscheiden, ob diese Technologie die konventionelle Fluoroskopie ersetzt oder als ergänzende Schutzebene in Robotik- und Augmented-Reality-Umgebungen integriert wird.

 

Referenzen

  1. Kim HJ, Lenke LG. Radiation exposure in pedicle screw placement. Spine J. 2020;20(6):xyz.
  2. Massalimova A, et al. Automatic breach detection during spine pedicle drilling based on vibroacoustic sensing. Artif Intell Med. 2023;144:102641.
  3. Cavalcanti N, et al. A new sensing paradigm for the vibroacoustic detection of pedicle screw loosening. Comput Assist Surg. 2024;29(1):e1234.
  4. FAROS Project Consortium. Force-Ultrasound Fusion: Bringing Spine Robotic-US to the Next „Level“. arXiv:2002.11404 (abgerufen am 10.07.2025).
  5. Ansari ST, et al. A Hybrid-Layered System for Image-Guided Navigation and Robot Assisted Spine Surgery. arXiv:2406.04644.
  6. Bobbio C, et al. Breach detection in spine surgery based on cutting torque. In: Proc. ICRA 2024.
  7. World Health Organization. Ionizing radiation exposure levels and cancer risk. WHO Technical Report Series 2023.